Körper und Seele sind zwei untrennbar miteinander verbundene Aspekte der gleichen Sache. Eine altmodisch anmutende Bezeichnung für den beseelten Körper wäre „Leib“.
Die Bezeichnung „Psychosomatik“ darf daher nicht missverstanden werden, als eine linear gedachte körperliche Krankheitsentwicklung aufgrund von seelischen Problemen, sondern vielmehr als ein aus dem Gleichgewicht gekommen Sein eines ganzen Systems, das Symptome und Leiden auf körperlicher, als auch auf seelischer und sozialer Ebene bewirken kann.
Dieses Ungleichgewicht wird vor dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells gesehen. Das heißt es werden Vulnerabilitätsfaktoren, auslösende Faktoren und aufrechterhaltende Faktoren auf körperlicher, seelischer und sozialer Ebene beachtet. Gesundheit ist dabei die Fähigkeit des Menschen mit körperlichen (z.B. einer Infektionskrankheit), psychischen (z.B. einer angstmachenden Erfahrung) und sozialen (z.B. finanzielle Sorgen) Belastungen umzugehen und zurecht zu kommen. Krankheit ist die Folge einer Überlastung dieser Fähigkeit.
Auch die Entfremdung des modernen Menschen von der Natur, entzieht ihm einen stabilisierenden Faktor.
Allgemeinmedizinische Arbeitsgrundlagen und allgemeine medizinische Ethik beinhalten bereits einen Großteil der psychosomatischen Haltungen.
Zur Zeit meines Medizinstudiums war die psychosomatische Medizin noch eher ein Randthema der Ausbildung. Ich erkannte dieses Defizit und absolvierte meine Wahlfachausbildung auf diesem Gebiet (Medizinische Psychologie). Zunächst war die Motivation einfach meine Neugierde für das, was praktisch gar nicht im universitären Curriculum vorkam und meine unrealistische Sehnsucht „alles“ wissen zu wollen.
Diese Lehrveranstaltung führte zwar nicht dazu, dass ich „alles“ wusste, legte aber einen Grundstein für meine weitere Einstellung und meinen weiteren beruflichen Weg.
Noch während der Zeit meiner Turnusausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin in den 1990er Jahren, absolvierte ich meine Diplomausbildung für „Psychosomatische Medizin“.
Sowohl meine Wahl der Facharztausbildung für Neurologie und Psychiatrie, als auch meine spätere Entscheidung die somatisch spezialisierte Spitalstätigkeit aufzugeben und in die Praxis zu gehen, waren von diesen inneren Überzeugungen beeinflusst.
Im Grunde denke und arbeite ich seit meiner Wahlfachausbildung in medizinischer Psychologie „psychosomatisch“ und entwickle diese Arbeitsweise weiter.
Selbstlimitierende „normale“ Körperbeschwerden sind häufig. Ohne sie überhaupt groß zu beachten, leiden wir alle gelegentlich daran.
Als Ursache können wir diesen Körperbeschwerden psychische oder körperliche Ursachen zuschreiben, oder die Zusammenhänge bleiben unklar.
Beispiele wären Kopfschmerzen bei Ärger. Die Ursache wäre in diesem Fall psychisch (Ärger). Obwohl viele Menschen ja auch keine Kopfschmerzen bei Ärger bekommen und vielleicht eine (körperliche) Neigung gerade mit Kopfschmerzen auf Ärger zu reagieren besteht. (Körperlicher Vulnerabilitäsfaktor).
Ein Beispiel für körperliche Ursachen wären Rückenschmerzen nach einer längeren Autofahrt. Vielleicht treten diese Beschwerden auf dem Boden (Vulnerabiliätsfaktor) einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung oder einer schwachen Rückenmuskulatur auf.
Ein weiteres Beispiel für normale, selbstlimitierende Körperbeschwerden wäre eine Erkältungskrankheit.
Solange diese Beschwerden ein gewisses Maß nicht überschreiten und nach angemessener Zeit wieder verschwinden, werden sie gar nicht als Erkrankung wahrgenommen, optimistsich beurteilt und führen nicht zu Arztkontakten.
Als Allgemeinmediziner habe ich auch die Arbeitsunfähigkeit zu beurteilen (vulgo „Krankschreiben“).
Eine an sich auf den ersten Blick eher wenig herausfordernde Aufgabe, erlaubt sie doch tiefe Einsichten in die Möglichkeiten, wie seelische Vorgänge bei körperlichen Erkrankungen die führende Rolle übernehmen können.
Bleiben wir bei dem Beispiel einer banalen Erkältungskrankheit. Fünf Patienten waren schon da, wollten nur ein paar Tage krank geschrieben werden und fanden es schon übertrieben, dass ich ihre Temperatur messe, die Lunge abhöre und einen Blick in den Rachen mache. Dass ich dann sogar noch einen Brusttee veschreibe und zur Hühnersuppte rate, wird als überfürsorglicher Bonuspunkt verbucht.
Dann kommt der sechste Patient. Mit genau den gleichen körperlichen Symptomen, wie die vorigen fünf. Er braucht zwar auch eine Krankmeldung, das aber nur nebenbei. Vor allem schildert er mir detailgetreu Beginn und bisherigen Ablauf der „schon“ seit drei Tagen bestehenden Symptome und der dadurch erlebten Beeinträchtigung. Dass ich ihn sorgfältig körperlich untersuche, setzt er voraus. Tatsächlich ist er ja hauptsächlich deswegen gekommen. Auf meine Beteuerung, dass es sich um eine banale, selbslimitierende Erkältungskrankheit handle, die keiner besonderen medizinischen Behandlung, schon gar keiner Antibiotikagabe bedürfe, bei der man aber vorteilhaft Brusttee und Hühnersuppe zur Anwendung bringen könne, antwortet er mit misstrauischer Mine: „Na, dann ist es ja gut. Weil Sie wissen ja, mein Bruder hat COPD und hängt am Sauerstoff und voriges Monat ist der Bruder meiner Frau an Lungenkrebs gestorben, der war in meinem Alter.“ Drei Tage später ist er wieder da. Der anfangs trockene Reizhusten sei jetzt ganz schleimig, der Schleim sogar gelblich. Ich höre ihn noch einmal ab und verschreibe wieder kein Antibiotikum, sondern erkläre die bisher getroffenen Maßnahmen für auch weiterhin angemessen. So etwas könne schon einmal zwei Wochen dauern. Vielleicht könnten Restsymptome, sogar noch länger bestehen. Nun höre ich nichts mehr von ihm. Nach weiteren zwei Wochen (also insgesamt schon etwas länger als drei Wochen) kommt er wieder. Er war dann doch beim Lungenfacharzt. Tatsächlich sei es „nichts“ gewesen. Aber es habe über drei Wochen gedauert, berichtet er vorwurfsvoll. Aber obwohl er noch immer nicht ganz gesund sei, müsse er wieder in die Arbeit. Dort gehe es ja auch drunter und drüber, viel zuwenig Personal.
Wenn der Patient in ein paar Wochen wegen Kreuzschmerzen wieder kommt, werde ich schon sehr hellhörig auf die krankheitsbezogenen Ängste und Überzeugungen (z.B. es wird ein Bandscheibenvorfall sein, ich brauche eine Operation, ich werde nicht mehr Arbeiten können), auf sein Krankheitsverhalten (Medikamente und körperliche Schonung, statt Physiotherapie und später vermehrt körperliche Aktivität) auf psychische Stressfaktoren (Todesfall in der Familie, schwere Krankheit in der Familie), auf Arbeitsüberlastung (ich weiß ja schon: „dort geht es drunter und drüber, viel zuwenig Personal“) und auf einen eventuellen sekundären Krankheitsgewinn („Vielleicht schicken sie mich jetzt in Pension“) achten.
Obwohl diese Beispiele zeigen, welche Faktoren zum Tragen kommen, sind „normale Körperbeschwerden“ oder „vorübergehende Befindlichkeitsstörungen“ nicht Gegenstand der Psychosmatik im engeren Sinne. Wenngleich eine psychosomatisch orientierte Herangehensweise hilfreich im adäquaten Umgang mit diesen Körperbeschwerden ist.
Dieser Begriff umfasst ein breites Spektrum an Beschwerdebildern. Ihnen gemeinsam ist, dass die Beschwerden auf eine Funktionsstörung von ein oder mehreren Organsystemen zurückzuführen sind. Psychosoziale Faktoren bestimmen dabei das Ausmaß des durch die Funktionsstörung entstandenen Leidenszustandes wesentlich mit. Eine eventuell begleitende strukturelle Störung spielt demgegenübere eine geringere Rolle.
Ein Beispiel wäre Rückenschmerz bei einem Mann im mittleren Alter, der nach besonders langer und intensiver Beibehaltung monotoner Haltung am Schreibtisch im Homeoffice aufgetreten ist. Außerdem gibt er an, „aufgrund des Lockdowns“ kaum körperlichen Ausgleich gemacht zu haben. Dies wäre ja in Wirklichkeit trotz der Lockdownbestimmungen möglich gewesen. In seiner Ursachenzuschreibung ist er also passiv den Umständen ausgeliefert (Lockdown). Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung (Bewegung im Freien, oder halt auch daheim wären ja möglich gewesen) ist gering. Die körperliche Untersuchung ergibt schmerzhafte Muskelverspannungen und Beweglichkeitseinschränkungen (Störung der Organfunktion), aber keine neurologischen Ausfälle. Ein Röntgenbild ergibt altersentsprechende degenerative Veränderungen (ein struktureller Schaden ist also vorhanden, der war auch vor Auftreten der aktuellen Beschwerden schon vorhanden und hat, wenn überhaupt nur geringe Bedeutung für das Beschwerdebild) eine MRT zeigt ebenfalls degenerative Veränderungen einschließlich mehrere „Bandscheibenvorwölbungen“ und geringe entzündliche Veränderungen. Auch damit ist also keine Ursache für das Beschwerdebild zu finden. Der Mann ist sehr besorgt, da er bei dem Beschwerdebild an seine Mutter denkt, die aufgrund von Rückenbeschwerden stark beeinträchtigt ist (Vulnerabilitätsfaktor, kognitiv), er akzeptiert die Erklärung des MRT Befundes als mehr oder weniger altersentsprechend unauffällig nicht, sondern interpretiert die „Bandscheibenvorwölbungen“ als „Bandscheibenvorfälle“ (aufrechterhaltender Faktor kognitiv, katastrophisierend). Er glaubt dem einen Teil der Empfehlung des Arztes, Physiotherapie in Anspruch zu nehmen nicht (kognitiv), sondern nur dem zweiten Teil der Empfehlung ein Schmerzmittel zu nehmen. Bezüglich Bewegung entschließt er sich zu weitgehender Schonung (Verhalten). Es kommt zwar aufgrund der Schmerzmedikamente und des günstigen Spontanverlaufs zu einer Besserung, aber nicht zur völligen Schmerzfreiheit. Eigentlich könnte er seiner gewohnten Arbeit wieder nachgehen. Es wäre nur sinnvoll mehr Bewegung zu machen. Er hat Angst davor, an den Arbeitsplatz zurück zu kehren, weil er eine schlechte Stimmung aufgrund seines Krankenstandes befürchtet. Ein Freund kennt einen, der „wegen sowas in Pension geschickt wurde“. Jetzt kommt auch die Angst vor dauerhafter Arbeitsunfähigkeit dazu, die dazu führt, dass er seine Beeinträchtigung besonders kritisch beobachtet, was seine Angst weiter steigert und zu einer Veränderung seines Selbstbildes führt (vorher „guter Mitarbeiter“, halt zuwenig bedankt, jetzt „nichts mehr wert“). Inzwischen scheint ihm die Arbeitsunfähigkeitspension ein sinnvoller, bald der einzig sinnvolle Ausweg aus seinem Schlamassel zu sein („sekundärer Krankheitsgewinn“) usw.
Definierte über einen längeren Zeitraum bestehende funktionelle Symptomcluster (=typische Symptomkonstellationen), die meist mit einer relevanten Einschränkung der Funktionsfähigkeit einhergehen.
Beispiele wären das Fibromyalgiesyndrom, chronische Müdigkeit (chronic fatigue), persistent postural-perceptual Dizziness (früher „phobischer Schwankschwindel“), Reizdarm-/Reizmagen-Syndrom, nicht-epileptische („psychogene“) Anfälle.
Viele Fälle von Spannungskopfschmerz oder atypischem Gesichtsschmerz wären ebenfalls hier einzuordnen, wenn sie über einen längeren Zeitraum mit relevantem Leiden einhergehen.
Diese neue diagnostische Kategorie ersetzt mehrere ältere Diagnosen. Das ist nicht nur eine Spielerei mit der Nomenklatur, sondern ein neues Konzept, das den Umgang mit dieser Art von Störungen revolutioniert.
Drei Kriterien kennzeichnen die somatische Belastungsstörung:
Es bestehen ein oder mehrere somatische (körperliche) Symptome, die belastend sind, oder zu Störungen des Alltagslebens führen.
Es ist eine psychische Komponente nachweisbar, die sich in den Bereichen Kognition (übertriebene anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit der Symptome), Emotionen (anhaltend hohes Angstniveau bezogen auf die Symptome oder die Gesundheit) und Verhalten (z.B. unangemessener Zeit- und Energieaufwand bezüglich der Symptome, oder Gesundheitssorgen) äußert.
Und die Symptome sind anhaltend, wobei bei mehrerern Symptomen durchaus unterschiedliche Symptome zu unterschiedlichen Zeiten im Vordergrund stehen können.
Das revolutionäre an dieser Diagnose ist, dass es unerheblich ist, ob die körperlichen Symptome ausschlißlich „psychisch bedingt“ sind, ob sie ausschließlich „funktioneller Natur“, also ohne strukturelle Läsion, oder mit mehr oder weniger relevanten strukturellen Befunden einhergehen. Genau das ist der tägliche Alltag in der psychosomatischen Medizin.
Diese Diagnose erlaubt es auch, die körperlichen Symptome als das wahrzunehmen, was sie sind: Körperliche Symptome mit mehr oder weniger somatischem Krankheitswert (z.B. Pathogenese, Therpiemöglichkeiten, Prognose). Davon unabhängig kann der Mensch von diesen Symptomen unangemessen belastet sein und unangemessen darauf kognitiv, emotional oder auf der Verhaltensebene reagieren. Diese Tatsachen lassen dann auch ein therapeutisches Vorgehen auf allen Ebenen zu.
Das Erkennen und Behandeln von psychiatrischen Begleiterkrankungen, sogenannten Komorbiditäten ist ein wesentlicher Bestandteil der psychosomatischen Medizin. Das bedeutet, dass viele neurologische Erkrankungen häufiger mit psychischen Erkrankungen einhergehen, als das bei sonst gesunden Menschen der Fall ist. Besonders Depressionen und Angsterkrankungen, die an sich schon häufig sind, sind bei neurologischen Erkrankungen besonders häufig.