Kribbeln, Prickeln, das Gefühl des „Eingeschnürtseins“ und andere Missempfindungen zu Beginn meist an den Zehenballen, später mit socken- oder strumpfförmigem Verteilungsmuster sind oft der Beginn einer Polyneuropathie (PNP, oder PNP-Syndrom).
Brennende, oder wie mit Nadeln stechende Schmerzen (Dysästhesien) mit gleichem Verteilungsgebiet, oft zunehmend nachts im Bett, in Ruhe und Wärme können hinzutreten. Diese neuropathischen Schmerzen sind prinzipiell einer medikamentösen Behandlung zugänglich.
Die bisher geschilderten Symptome sind sensible „Reizerscheinungen“. Es kann aber auch zu sensiblen und motorischen Ausfallserscheinungen kommen.
Sensible Ausfallserscheinungen sind verminderte Wahrnehmung von Reizen, die auch schon auf die betroffenen Nervenfasern rückschließen lassen.
Eine herabgesetzte Berührungsempfindung muss korrekt geprüft und erfragt werden, da sich anfangs vor allem die Qualität der Wahrnehmung ändert. Der Patient spürt schon „eine Berührung“, kann aber etwa nicht korrekt zwischen verschiedenen Berührungsqualitäten z.B. spitz/stumpf unterscheiden, oder er nimmt zwei berührte Punkte in geringem Abstand als eine einzige Berührung wahr.
Sind große Nervenfasern betroffen, kann es zur Einschränkung der Wahrnehmung des eigenen Körpers und damit zur Stand- und Gangunsicherheit kommen, die bei Dunkelheit, oder beim Augenschließen zunimmt. Neben der berichteten Stand- und Gangunsicherheit die sich auch in den entsprechenden Tests der neurologischen Untersuchung bestätigen, kann der sogenannte Knie- Hakenversuch (KHV) unsicher (ataktisch) werden.
Das Vibrationsempfinden (Pallästhesie) ist in dieser Konstellation häufig herabgesetzt und deutet ebenfalls auf eine Schädigung großer Nervenfasern hin.
Auch das Temperaturempfinden kann vermindert sein, was dann auf eine Schädigung kleiner Nervenfasern hindeutet. Die Füße können dabei als ständig kalt empfunden werden.
Motorische Ausfallserscheinungen können zu einer Vorfußheberschwäche führen. Bei Schädigungen geringeren Ausmaßes ist das Zehenspreitzen nicht möglich. Atrophien (Verschmächtigungen) der Muskulatur betreffen anfangs nur die kleinen Fußmuskeln und sind daher nur bei genauer Beobachtung erkennbar. Später wird auch die Wadenmuskulatur schwächer. Eine Atrophie des M. tibialis anterior kann die Schienbeinkante markant hervortreten lassen. Muskelkrämpfe, Muskelschmerzen, Muskelschwäche oder ein rhythmisches Muskelzucken (Faszikulieren) können auf eine PNP hinweisen, sind aber sehr allgemeine Symptome und nur im Gesamtkontext zu bewerten.
Der Achillessehnenreflex hat sowohl eine sensorische, als auch eine motorische Komponente und ist bei Polyneuropathien häufig herabgesetzt.
Eine ganz wesentliche Bedeutung für die erste diagnostische Zuordnung der Polyneuropathien ist die Frage ob sie akut (innerhalb von weniger als 4 Wochen), subakut (4 bis 8 Wochen), oder chronisch (länger als 8 Wochen, oft innerhalb von Jahren) aufgetreten sind.
Ganz entscheidend ist auch das Verteilungsmuster. Oben sind wir davon ausgegangen, dass es sich um eine sogenannte „distal symmetrische“ Verteilung, das ist die bei weitem häufigste Variante, handelt. Die Beschwerden beginnen also an den Zehen und schreiten socken-, bis strumpfförmig fort. Die Hände können ebenfalls betroffen sein. Weiters können asymmetrische Verteilungstypen vorkommen, oder es können zusätzlich einzelne Nerven betroffen sein (multiplex Typ), oder die stammnahen Nerven (also z.B. der N.femoralis (Oberschenkelnerv)) sind bevorzugt betroffen. Und letztlich können Hirnnerven betroffen sein.
In dieser kurzen praktischen Übersicht für interessierte Laien, Betroffene oder Kollegen, die nicht auf dies Erkrankung spezialisiert sind, beschränke ich mich in den folgenden Ausführungen auf den bei weitem häufigsten Verteilungstyp, die distal symmetrische Verteilung.
Wenn wir also die Symptome und Ergebnisse der neurologischen Untersuchung bei Polyneuropathien ordnen, ergeben sich folgende klinische Typen einer Polyneuropathie.
Nach der zeitlichen Entwicklung der Symptome
Nach dem Verteilungstyp
Nach den betroffenen funktionellen Systemen
Die Diagnose eines Polyneuropathiesyndroms erfolgt in erster Linie „klinisch“. Das heißt dass ein PNP-Syndrom vorliegt ergibt sich aus der Krankengeschichte und der körperlich-neurologischen Untersuchung.
Eine sehr wesentliche Frage an die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit ist, ob es sich um eine demyelinisierende oder axonale Schädigung handelt. Daneben kann die klinische Diagnose bestätigt werden. Außerdem kann auch in Abschnitten des Nervensystems, die klinisch gar nicht sicher betroffen sind eine Schädigung auffallen und sogenannte „Leitungsblocks“ können detektiert werden.
Theoretisch ist die Unterscheidung zwischen demyelinisierender und axonaler Schädigung einfach:
Die Myelinscheiden dienen dazu, dass die Nervenleitung sehr schnell erfolgt. Bei einer demyelinisierenden PNP wird daher die Nervenleitgeschindigkeit (NLG) herabgesetzt sein.
Die Summe der Tätigkeit der Axone (Aktionspotenziale) fließt in die Messung des sognannten Summenaktionspotenzials ein, das bei einer axonalen Schädigung herabgesetzt ist.
In der Praxis der Messung ist das komplexer und die Bewertung der Messergebnisse ist nicht immer so einfach.
Die manchmal geübte Praxis, bei irgendwelchen komischen Symptomen eine NLG messen zu lassen und dann zu sagen „ist halt eine PNP“, oder „Sie haben keine PNP“ ist jedenfalls nicht treffsicher und angemessen.
Die große praktische Bedeutung der Unterscheidung ist, dass die axonale PNP meist eine metabolische Ursache hat (Diabetes, Niereninsuffizienz, Alkohol usw.), während die demyelinisierende PNP meist eine entzündliche Ursache hat (z.B. Guillain-Barré Synrom, CIDP usw.). erbliche oder andere seltene Ursachen kommen in Frage.
Die Entwicklung ist oft chronisch, das Verteilungsmuster ist oft distal symmetrisch. Sensorische und motorische Systeme sind betroffen, daneben können kleine Nervenfasern und autonome Nerven beteiligt sein. Zu Beginn zeigt sich ein axonales Schädigungsmuster.
Eine häufige Ursache für Polyneuropathien stellt der Diabetes Mellitus dar. Nach 15 Jahren Diabeteserkrankung zeigen bis zu 50% der Patienten eine PNP. Nur bei 15% kommt es zu klinisch bedeutsamen Beschwerden. Allerdings kann eine PNP auch schon vor der Diagnosestellung bestehen und das Erstsymptom für einen DM II sein. Die „Therapie der Wahl“ ist eine optimale Diabeteseinstellung. Sollten neuropathische Schmerzen bestehen, kann eine medikamentöse Therapie versucht werden.
Außer der typischen chronischen, distal symmetrischen, sensomotorischen PNP kommen beim DM selten auch andere klinische Formen (proximal betont, asymmetrisch, multiplex Typ, Hirnnervenbeteiligung bzw. diabetische Hirnnervenmononeuropathie, akute diabetische thorakale Radikulopathie) vor.
Schwere alkoholische PNP-Syndrome, oft mit einer ataktischen Gangstörung und Schmerzen sieht man vor allem bei jahrelangem schwerem Alkoholmissbrauch. Allerdings kann auch ein „sozial verträglicher“ also als „moderat“ eingeschätzter Alkoholgebrauch zu Polyneuropathien führen. Die Dauer des Konsums und die Lebenszeit-Alkoholmenge korrelieren am besten mit Auftreten und Schwere der alkoholbedingten PNP.
Schmerzen (dünne Nervenfasern) kommen häufig als Symptom vor. Bei Schmerzen und autonomen Symptomen können die Symptome weit ausgeprägter sein, als die Ergebnisse der elektrophysiologischen Untersuchung erwarten lassen würden.
Völlige Alkoholabstinenz kann langsam zu Besserung führen, ist aber oft von den abhängigen Patienten nicht zu erreichen.
Die Niereninsuffizienz führt meist erst im fortgeschrittenen Stadium zur PNP. Mit anderen Worten die Entwicklung einer PNP bei chronischer Niereninsuffizienz korreliert mit Schwere und Dauer der renalen Erkrankung. Das führende Symptom der langsam progredienten distal symmetrischen PNP sind Dysästhesien (Missempfindungen), die ein socken-, bzw. strumpfförmiges Verteilungsmuster zeigen. Motorische Defizite stehen demgegenüber im Hintergrund.
Dialyse und Nierentransplantation haben einen positiven Effekt auf den Verlauf dieser PNP.
Verschiedene Vitaminmangelzustände können zu einem PNP-Syndrom führen. Am häufigsten und häufig unerkannt ist der Vitamin B12 Mangel. Neben dem Krankheitsbild der perniziösen Anämie, kann auch jahrelange vegane Ernährung einen Vitamin B12 Mangel bewirken, andere Ursachen sind selten. Sensitiver als die laborchemische Bestimmung des Vitamin B12 an sich, ist die Bestimmung von Methylmalonsäure. Neben dem niedrigen Vitaminspiegel, kommt es in vielen Fällen typischer Weise auch zu einer Blutbildveränderung (Makrozytäre Anämie).
Auch andere Vitaminmangelzustände z.B. Vitamin B6 Mangel können (selten) zur PNP führen. Ich erwähne absichtlich das Vitamin B6, da auch Überdosierungen gerade von Vitamin B6 zur PNP führen können. Die Konsequenz ist, nur bei nachgewiesenem Mangel Vitamine zu ersetzen. Eine allgemeine Vitamingabe sollte wegen einer PNP nicht erfolgen.
Während früher tatsächlich offensichtliche Gifte z.B. Lösungsmittel im Zusammenhang mit beruflicher Exposition der Patienten eine wesentliche Rolle spielten, sind das heutzutage vor allem Medikamente, allen voran onkologische Chemotherapeutika und andere onkologische Therapien.
Eine positive Familienanamnese auf Polyneuropathien, früher Beginn, besondere Ungeschicklichkeit im Kindes- und Jugendalter (z.B. häufiges Stolpern), auffallend dünne Waden, Fußdeformitäten, wie Hohlfuß- oder Krallenzehen können Hinweise auf eine Erbkrankheit und dann Anlass für eine weiterführende Untersuchung sein.
Hinweisend ist schon zu Beginn eine ausgeprägt demyelinisierende Komponente und ein akut bis subakuter Verlauf. Diese PNP-Formen sollen zügig und spezialisiert abgeklärt werden, da es sich dabei um einen möglichen abwendbar gefährlichen Verlauf handelt. Die Beteiligung des autonomen Nervensystems kann für Komplikationen (Herzrhythmusstörungen) verantwortlich sein. Oft ist eine Spitalsaufnahme in der Akutphase notwendig.
Es gibt zahlreiche Typen von entzündlichen Polyneuropathien. Exemplarisch sei hier auf einige wenige hingewiesen.
Akute aufsteigende rasch fortschreitende (Maximum ist nach 4 Wochen erreicht) neuropathische Symptome können auf ein GBS hindeuten. Häufig kommen rein motorische Varianten, seltener aber auch sensible, sensomotorische Varianten, asymmetrische Varianten und die Beteiligung von Hirnnerven und autonomen Nervensystem vor.
Auf den ersten Blick auf die beschriebenen Varianten scheint dann ja jegliche Polyneuropathie auch ein GBS sein zu können. Den Verdacht darauf soll der akute Beginn, das rasch aufsteigende Fortschreiten und in der Elektrophysiologie das demyelinisierende Schädigungsmuster lenken. Liquoruntersuchungen können den Verdacht erhärten (Albuminerhöhung ohne, oder mit ganz geringer Erhöhung der Zellzahl).
Oft sind vorangegangene Infektionserkrankungen (respiratorischer Infekt (Mykoplama peumoniae), Durchfallserkrankung(Campylobakter jejuni)) oder Impfungen anamnestisch erhebbar. Andere Infektionskrankheiten kommen ebenfalls als Ursache in Frage (Zika, Hepatitis E, COVID-19).
Chronisch remittierend, schubförmig progrediente, oder wiederkehrende distale und proximale sensomotorische PNP aller vier Extremitäten mit fehlenden oder abgeschwächten Muskeleigenreflexen aller Extremitäten und eine Entwicklung über mindestens 2 Monate wäre hinweisend auf eine CIDP. Atypische Verlaufsformen kommen aber vor.
Die Elektrophysiologische Abklärung ist wegweisend.
Paraproteinämien (monklonale Gammopathie vom IgM-Typ) sind häufig. Polyneuropathien sind häufig. Es kommt auch zu Polyneuropathien durch Paraproteinämien, die meist demyelinisierend sind.
Die Bedeutung der Paraproteinämie als individuelle Ursache für eine PNP abzuschätzen ist komplex.
Diese können durch die chronische Entzündung zu einem PNP-Syndrom führen. Oft ist die motorische Komponente deutlicher und es kommen auch relativ rasche (subakute) Verläufe vor.
Bei dieser Form der meist axonalen PNP werden Antikörper gegen paranodale Proteine am Ranvier´schen Schnürring gebildet.
Diese betreffen vor allem Männer, sind ausschließlich motorisch mit Atrophien und durch ein asymmetrisch, distal betontes Verteilungsmuster, mit Beginn oft an den Armen gekennzeichnet.
Befall verschiedener Nerven, oder auch eine subakut fortschreitende distal symmetrisch beginnende PNP kann als Ursache eine Vaskulitis haben. Diese kann zwar systemisch sein, aber auch auf das periphere Nervensystem beschränkt bleiben.