Etwa jeder 2. Mensch litt im letzten Jahr zumindeste einmal an Kopfschmerzen. Ungefähr 10% aller Menschen leiden an Migräne und ein noch größerer Anteil an Spannungskopfschmerzen. Dem gegenüber sind andere Kopfschmerzarten deutlich seltener.
Da Migräne meist schwerere Kopfschmerzanfälle und größeres persönliches Leid als Spannungskopfschmerzen bedingen, führen sie den Patienten öfter zum Arzt. In den Arztpraxen stellt die Migräne daher die am häufigsten vertretene Kopfschmerzdiagnose dar.
Es gilt daher: Bis zum Beweis des Gegenteils darf bei wiederkehrenden, deutlich beeinträchtigenden Kopfschmerzen zunächst von einer Migräne ausgegangen werden.
Die ersten beiden diagnostischen ärztlichen Aufgaben sind daher festzustellen, ob hinter den Kopfschmerzen nicht doch eine andere Erkrankung steckt und ob ein erheblicher Leidensdruck und eine Verminderung der Lebensqualität bestehen.
Viele Patienten suchen bei Kopfschmerzen gar keinen Arzt auf. Sie ertragen einfach den Kopfschmerz, bis er hoffentlich bald wieder vergeht, oder nehmen mit mehr oder weniger Erfolg ein Schmerzmittel ein. Solange dadurch die Lebensqualität nicht zu sehr leidet, weil die Kopschmerzen nicht gar so arg und selten sind und nicht zu oft Schmerzmittel eingenommen werden, ist dagegen auch gar nichts einzuwenden. Die Wahrscheinlichkeit eines abwendbar gefährlichen Verlaufes ist ja insbesondere bei schon länger bekannten, immer gleichartigen Kopfschmerzen gering.
Allerdings ist oft mit einem strukturiertem Vorgehen doch eine erhebliche Verkürzung der Attackendauer, eine Verringerung der Attackenhäufigkeit und eine Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen. Da außerdem doch gelgentlich andere behandelbare, oder gefährliche Krankheiten hinter Kopfschmerzen stecken können, ist zumindest einmalig eine medizinische Diagnostik sinnvoll.
Die genaue Erhebung der Kopfschmerzanamnese (Schilderung des Patienten, ergänzt durch gezielte Fragen) erlaubt oft schon mit großer Wahrscheinlichkeit die Kopfschmerzdiagnose.
Eine neurologische und allgemeinmedizinische körperliche Untersuchung geben unter Umständen einen Hinweis auf andere zugrunde liegende Erkrankungen. Beziehungsweise verringern sie die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer solchen Erkrankung gegen Null.
Zum absoluten Ausschluss von morphologisch faßbaren (also eventuell gefährlichen) Erkrankungen des Gehirns, oder des Schädels, sowie bei spezifischen Hinweisen oder diagnostischen Unklarheiten wird meist einmalig eine MRT (Magnetresonanztomographie) des Gehirns (Schädels) durchgeführt. Eine wiederholte Durchführung eines bildgebenden Verfahrens ist im Allgemeinen nach einmal gestellter Diagnose nicht sinnvoll.
Wenn einmal eine Diagnose gestellt ist, ergeben sich daraus auch die therapeutischen Möglichkeiten.
Wenn man als junger Arzt, der sich mit Kopfschmerzen spezialisiert beschäftigen möchte, erfährt, dass es deutlich über 250 verschiedene Kopfschmerzdiagnosen gibt, könnte man zunächst verzweifeln und das Ganze gleich wieder lassen wollen. Als Patient wird man je nach Persönlichkeit zwischen Ehrfurcht und Skepsis schwanken.
Doch so kompliziert ist die Sache auch wieder nicht. Es ist seit Einführung eines international einheitlichen Klassifikationssystems keine einzige Kopfschmerzart neu aus dem Nichts entstanden und die meisten Kopfschmerzdiagnosen waren im Grunde auch früher schon gebräuchlich. Der Vorteil der jetzt gültigen Klassifikation ist, dass jeder mit einer Diagnose das Gleiche meint und dass es klare Kriterien zur Diagnostik gibt. Damit wird einem das Leben sogar erleichtert. Zu der ungeheuren Zahl kommt es durch eine Aufsplitterung in hierarchische Ebenen, von einer überschaubaren Anzahl wirklich auswendig zu wissender Kopfschmerzentitäten z.B. nach Häufigkeit des Auftretens, nach Begleitsymptomen oder danach ob alle, oder nur manche der diagnostischen Kriterien erfüllt werden. Also Dinge, die man jederzeit nachlesen darf und soll. Auch in der „Anleitung zum Gebrauch“ des Klassifikationsschemas ist angemerkt „Dieses umfassende Werk ist nicht zum Auswendiglernen gedacht. (…) Vielmehr versteht es sich als Standardwerk, das bei Bedarf immer wieder konsultiert werden kann.“
Die Erhebung der Kopfschmerzanamnese (Schilderung des Patienten, ergänzt durch strukutrierte Fragen des Arztes) ergibt den wesentlichen Hinweis in welche Richtung die weitere Diagnostik geht.
Handelt es sich um mittelstarke bis starke (beeinträchtigende) wiederkehrende Kopfschmerzen, eher pochenden, oder pulsierenden, oder stechenden Charakters, die oft einseitig, aber zwischen den Attacken zumindest manchmal seitenwechselnd sind, verbunden mit Ruhebedürfnis, Licht- und Lärmempfindlichkeit und zumindest gelgentlich leichte Übelkeit bis hin zur schweren Übelkeit oder Erbrechen und einer durchschnittlichen Dauer von einigen Stunden bis maximal 3 Tagen, wird es wohl am ehesten eine Migräne sein und man kann die weiteren Kriterien abfragen um die Diagnose zu erhärten und eine genauere Klassifikation zu erreichen. Ich zähle z.B. 25 verschiedene Migränediagnosen, was schon zeigt, wie es insgesamt zu so vielen verschiedenen Diagnosen kommt.
Handelt es sich aber um leichte bis mittelschwere Kopfschmerzen, eher drückenden Charakters, die eventuell wie ein Ring den Kopf umschließen, bei körperlicher Betätigung sich nicht verschlechtern und nicht von Übelkeit begleitet sind und maximal mit leichter Licht- oder Lärmempfindlichkeit einhergehen und 30 Minuten bis sieben Tage dauern, wird es sich eher um einen Kopfschmerz vom Spannungstyp handeln, der nach abarbeiten der diagnostischen Kriterien in eine von 9 noch genauere Diagnosen eingeteilt werden kann. Wesentlich ist, dass neben scheinbaren Hinweisen auf einen Kopfschmerz vom Spannungstyp keine Hinweise auf eine andere Kopfschmerzursache vorliegen. Hier hat auch die körperliche Untersuchung eine wesentliche Bedeutung.
Handelt es sich aber um starke bis sehr starke Kopfschmerzen, die immer einseitig auftreten und mehr oder weniger mit Symptomen wie Rötung des Auges, Hängen des Augenlides, Tränen auf der Seite des Schmerzes, verstopfte Nase, auf der Seite des Schmerzes, Rinnen der Nase, Schwitzen verbunden ist, dann könnte es ein seltener trigeminoautonomer Kopfschmerz sein. Davon noch am häufigsten ist dann die Untergruppe des Cluster-Kopfschmerzes. Insgesamt können wir durch Anwendung genauerer Kriterien 14 Diagnosen diesere Gruppe zuordnen. Besonders wichtig ist in diesem Fall eine MRT, die meist unauffällig sein wird und damit den Ausschluß einer gefährlichen Kopfschmerzursache erlaubt.
Neben der Kopfschmerzcharakteristik besonders wichtig sind bei der Gruppe der etwa 20 „anderen primären Kopfschmerzen“ die Umstände unter denen sie auftreten. Z.B. der „primäre Kopfschmerz bei sexueller Aktivität“, der auch wieder 2 Diagnosen hergibt, nämlich den „primären Kopfschmerz bei sexueller Aktivität“ und den „wahrscheinlichen primären Kopfschmerz bei sexueller Aktivität“.
Wenn eine Kopfschmerzcharakteristik nicht sehr gut zur Gruppe der primären Kopfschmerzen passt, ist besonders auf das Vorliegen von anderen Erkrankungen, die Kopfschmerzen verursachen können zu achten.
Das kann ganz banal sein, z.B. Kopfschmerzen bei einem grippalen Infekt oder einer Nasennebenhölenentzündung. Bei diesen Erkrankungen würde man in der Praxis vielleicht gar nicht das internationale Klassifikationssystem bemühen. Andere Erkrankungen sind aber unter Umständen lebensbedrohlich, von einer intrakraniellen Blutung über eine Meningitis bis zu einem Hirntumor. Bei diesen seltenen Erkrankungen sind meist die Kopfschmerzcharakteristik, Begleitumstände, die allgemeinmedizinische und die neurologische Untersuchung sehr hinweisend. Apparative Zusatzuntersuchungen beweisen dann die zugrundeliegende Ursache.
Die letzte große Gruppe die in der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen gelistet ist, sind schmerzhafte Läsionen der Hirnnerven und andere Gesichtsschmerzen zu nennen. Sie sind insgesamt nicht sehr häufig und bei genauer Anamnese meist leicht von anderen Kopfschmerzerkrankungen abzugrenzen.
Am häufigsten in dieser Gruppe sind Erkrankungen des Nervus trigeminus. Sie kommen als Trigeminusneuralgie mit oder ohne diagnostisch erkennbare Ursache, oder als Folge z.b. eines Herpes zoster (Gürtelrose) im Bereich des Nerven vor.
Ebenfalls nicht ganz selten sehe ich den anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerz (früher „atypischer Gesichtsschmerz“) der manchmal mit der Trigeminusneuralgie verwechselt wird. Die Schmerzen bei der Trigeminusneuralgie sind aber kurz und stromstoßartig, diejenigen des anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerzes dauern länger an und sind dumpf, anhaltend bohrend und folgen nicht dem Innervationsgebiet eines Gesichtsnerven.